DFG Forschergruppe 1765

Im Juni 2013 hat die in Göttingen und München angesiedelte Forschergruppe ihre Arbeit zur ethischen Rolle des Protestantismus in der Bonner Republik aufgenommen. Exemplarisch werden etwa die Kontroversen um Wiederbewaffnung, Wirtschaftsordnung und Sozialstaat, Ehe- und Familienbilder, Ökologie und Frieden in der „alten“ Bundesrepublik betrachtet. Welchen Einfluss hatte der Protestantismus in diesen Kontroversen? Welche Rückwirkungen auf seine Gestalt und sein Selbstverständnis sind zu registrieren?

Mit der Arbeit der Gruppe wird eine Forschungslücke geschlossen, die hinsichtlich einer umfassenden Analyse des Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik besteht. Über bisher vorliegende Einzelstudien hinausgehend soll eine Kartierung der komplexen Verflechtungen zwischen Protestantismus und Gesellschaft der Bonner Republik erfolgen. Um diese komplexen Verflechtungen sichtbar zu machen, werden die öffentlich ausgetragenen ethischen Debatten und die sie flankierenden historischen, politischen, rechtlichen und ökonomischen Debatten untersucht. Dabei wird der Protestantismus, programmatisch offen, in der Vielfalt seiner kirchlichen, aber gerade auch außerkirchlichen und individuellen Erscheinungsformen in den Blick genommen.

Die Forschergruppe ist im Grenzgebiet von Evangelischer Theologie, Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft und Zeitgeschichte angesiedelt und will den interdisziplinären Austausch zwischen Theologie und Gesellschaftswissenschaften befördern. Sie will so einen Beitrag zu einer gesellschaftspolitisch informierten Religionsgeschichte der alten Bundesrepublik leisten. Zugleich soll daran der tiefgreifende Transformationsprozess des protestantischen Christentums in der Moderne exemplarisch beleuchtet werden. Nicht zuletzt wird der gesellschaftspolitische Beitrag des Protestantismus in der Bonner Republik mit Blick auf Kontinuitäten und Diskontinuitäten in die Zeit nach der Wiedervereinigung betrachtet.

Die Forschergruppe hat eine umfangreiche Datenbank über Akteure (sowohl individuell wie kollektiv) im bundesdeutschen Protestantismus 1945 bis 1990 erstellt. Diese Datenbank ist zum Teil öffentlich zugänglich unter folgendem Link: https://wiki.de.dariah.eu/display/F1P/Startseite

Thema

„Der Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik Deutschland 1949–1989“: Dieser auf den ersten Blick vielleicht etwas trockene Titel ist bei Lichte besehen sehr voraussetzungsreich. Er enthält einige Grundannahmen, die den Forschungsbedarf anzeigen – zugleich Grundannahmen, die die Mitglieder der Forschergruppe, bei aller Unterschiedenheit der Fachdisziplinen und der Zugänge aufs Thema, miteinander verbinden. Drei Schlüsselbegriffe sind es, die das Thema bestimmen.

Es ist erstens die Rede vom Protestantismus. Er soll untersucht werden im vollen Bewußtsein, daß nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann, was im einzelnen gemeint ist. Diese Offenheit ermöglicht aber gerade den Blick dafür, daß es sich beim Protestantismus um ein komplexes Gebilde aus heterogenen, teils widersprüchlichen Impulsen handelt. Protestantismus in der deutschen Nachkriegsgeschichte, das ist stets das ebenso unübersichtliche wie wirkungsreiche Geflecht aus evangelischen Landeskirchen, einzelnen Persönlichkeiten und deren beider öffentlicher Präsenz, wie es sich zum Beispiel bei den Auseinandersetzungen um Wiederbewaffnung, Sozialstaat, Abtreibung, Kernkraft oder Frieden zeigte. Protestantismus, das ist konfessionelle Kirchlichkeit so sehr wie ein Bewußtsein aufgeklärter und seiner Grenzen bewußter Individualität wie auch ein kulturelles oder gar politisches Konzept. Diese unterschiedlichen Ebenen des Protestantismus zu beschreiben und zueinander ins Verhältnis zu setzen, stellt eine umfassende und bisher nur in Ansätzen begonnene Forschungsaufgabe dar, die zu ergreifen ist, wenn man näher ergründen will, was denn eigentlich als Protestantismus zu verstehen ist.

Zweitens: in der beschriebenen Komplexität besteht der Protestantismus nicht an und für sich selbst, sondern er erscheint in dieser Komplexität nur an oder in anderem. Wir haben uns dafür entschieden, den Protestantismus in den ethischen Debatten zu untersuchen. Das ist ein in der Protestantismusforschung noch kaum breiter eingenommener Blick, der freilich sehr aufschlußreich erscheint. Denn hier, in den ethischen Debatten, zeigt sich die komplexe Struktur des Protestantismus als Gewebe aus kirchlich-konfessionellen, individuellen und öffentlichen Faktoren sehr deutlich. Ethische Debatten, darunter verstehen wir öffentlich ausgetragene Diskussionen um wertgeladene Streitpunkte wie beispielsweise um das Verhältnis von Mann und Frau, um Lebensanfang und Lebensende, um Frieden und Freiheit, um soziale Gerechtigkeit und Schutz der Umwelt. Solche ethischen Debatten entzündeten sich stets an aktuellen Konflikten, die normative politisch-rechtliche Regelungen erforderlich machten, die aber, wie sich schnell zeigte, nicht nur politisch-pragmatisch entschieden werden konnten, weil religiöse oder weltanschauliche Hintergrundsannahmen die Diskussionen um die politischen Optionen massiv mitbestimmten und emotional aufluden. Darum ist es kein Wunder, daß zu all den Debatten ausführliche Stellungnahmen der EKD vorliegen. Die Frage, die unsere Gruppenarbeit verbindet, lautet: wie erscheint der komplexe Protestantismus in diesen nicht minder komplexen ethischen Debatten? Wie ist er mit Verlauf und Ergebnis der Debatten verwoben, wie bildet er sich in diesen Debatten weiter aus? Welche Impulse gehen von ihm aus und welche Impulse empfängt er selbst?

Drittens: die Forschergruppe will dieser Frage im Blick auf die Bonner Republik nachgehen, die Bundesrepublik der Jahre 1949 bis 1989. Es ist selbstverständlich, daß man diesen Zeitraum der Nachkriegsjahre und diese Region Westdeutschland kaum isoliert betrachten kann. Und dennoch handelt es sich beim Protestantismus in der alten Bundesrepublik um eine im europäischen und ökumenischen Vergleich singuläre Konstellation. Das Verhältnis des Protestantismus zum staatlich-politischen Leben Westdeutschlands unterscheidet sich von dem des Katholizismus, es unterscheidet sich aber auch von den Verhältnissen in den skandinavischen Staatsprotestantismen.

Ein Wort noch zur Zäsur 1989. Die Konzentration auf die Jahre 1949 bis 1989 verdankt sich nicht nur einem zeitgeschichtlichen Deskriptionsinteresse, sondern mit dieser Fokussierung verbindet sich die die gemeinsame Arbeit der Forschergruppe bestimmende These, daß die zwischen 1949 und 1989 ausgearbeiteten Grundlinien des Verhältnisses von Protestantismus und Gesellschaft einen wichtigen Bestandteil des für die Bundesrepublik bis heute charakteristischen reflexiven Identitätsdiskurses darstellen. Es sind Grundlinien, die auf subtile Weise bis in die unmittelbare Gegenwart wirken, in den Kontinuitäten ebenso wie in den Diskontinuitäten.

Mit diesen Beobachtungen ist zugleich ein wesentliches Ziel der gemeinsamen Arbeit benannt. Es besteht in der Klärung der historisch-sachlichen und methodischen Voraussetzungen, unter denen die Bedeutung des Protestantismus im gegenwärtigen gesellschaftlichen Umfeld verständlich gemacht werden könnte. Denn ein solches Verständnis dürfte nur dann angemessen zu gewinnen sein, wenn das komplexe Spannungsfeld von Kontinuitäten und Diskontinuitäten vor und nach der Zäsur von 1989 hinreichend ausgemessen wird.

Was die Forschergruppe im Blick auf den Zugang zum Thema verbindet, ist mithin eine recht diffizile Mischung aus Offenheit und Beschränkung.

Offenheit, weil bewußt nicht von einem einfachen Abhängigkeitsverhältnis zwischen „dem“ Protestantismus und „den“ ethischen Debatten gesprochen wird, sondern weil davon ausgegangen wird, daß sich beide in einem vielfältigen Wechselverhältnis befinden, das durch das Neben- und auch das Gegeneinander unterschiedlicher Formen von Protestantismus und auch einander widersprechender ethischer Positionen erst seine ganze Dynamik entfaltet.

Beschränkung, weil die Forschergruppe sich bewußt Zurückhaltung verordnet hat im Blick auf manche komparativen Perspektiven. Die internationalen, die europäischen, die gesamtdeutschen und die ökumenischen Perspektiven beispielsweise sind zwar in der Weise präsent, daß sie als mitbestimmende Faktoren in den Blick kommen – der komparative Blick steht aber nicht im Zentrum unseres Interesses, das der Erschließung jenes relativ singulären und noch kaum erforschten, vor allem interdisziplinär noch weithin unerforschten Phänomens des Protestantismus in der Bonner Republik gilt.